Die Liebe ist wie eine Kartoffel. Am besten schmeckt sie frittiert. / Bild: flickr, CC 2.0 |
Meine Mutter und ich saßen am Samstag am Esszimmertisch und frühstückten. Das machten wir inzwischen fast immer, wenn ich meine Eltern zuhause besuchte. Anders als der Rest der Familie stand ich auch am Wochenende zu Bürozeiten auf.
Ich blätterte die Wochenendausgabe der örtlichen Zeitung durch, während ich an meiner Semmel kaute. Meine Mutter setzte sich irgendwann dazu. Sie nutzte die Zeit immer, um mit mir zu reden. Manchmal war es awkward, manchmal nervig, manchmal aufschlussreich.
"Ich bin froh, dass es dir gut zu gehen scheint."
Verwundert blickte ich sie an. Warum sollte es mir nicht gut gehen?
"Diesen einen Typen hast du inzwischen vergessen," fuhr sie fort. "Zumindest redest du nicht mehr über ihn."
Achja. Das.
"So wie du redest und wie du mit Geld und deinem Leben umgehst, weiß ich, dass du extrem schlau und intelligent bist. Aber wenn es um die Liebe geht, hast du noch viel zu lernen."
Klassisches asiatisches Kompliment: Nach dem Lob kommt immer gleich eine Relativierung. Damit man bloß nicht überheblich wird. Meine Mutter hatte also den Eindruck, dass ich in Beziehungsdingen einfach doof war. Danke, Mama.
"Das kann schon sein," entgegnete ich. "Woher soll ich denn wissen, ob jemand dauerhaft zu mir passt? Wie hast du zum Beispiel gewusst, dass Papa für dich der Richtige ist?"
Meine Mutter begann zunächst zu erzählen, wie sie sich kennen lernten: Wie sie im selben Dorf aufwuchsen, wo sie sich zuerst begegneten, und wie Dating im ländlichen Vietnam der Siebziger verlief: Gar nicht. Wenn man sich traf, dann nie alleine, sondern man besuchte zum Beispiel die Familie zu Hause. Alle saßen im Wohnzimmer und redeten miteinander. Händchenhalten, Küssen? Fehlanzeige.
Ich wurde ungeduldig. Die Geschichte kannte ich in dieser oder jener Form schon, doch das beantwortete nicht meine Frage: Wie zum Teufel erkennt man, ob es passt oder nicht? Bei einigen hatte ich gedacht, dass es passt, aber ich wurde jedes Mal eines Besseren belehrt.
"Woher wusstest du denn, dass Papa der Mann für dich ist?" platzte ich heraus.
"Er ging regelmäßig zur Kirche, jeden Tag um fünf Uhr, obwohl er am anderen Ende des Dorfs wohnte. Auch sonst verhielt er sich sehr höflich und anständig allen gegenüber, das gefiel mir. Ich wusste, dass dein Vater ein Auge auf mich geworfen hatte - wenn jemand an dir interessiert ist, siehst du das in den Augen. Da leuchtet etwas auf. Etwas, das man normalerweise nicht sieht. Die Augen sind der Spiegel der Seele, sagt man im Vietnamesischen."
Übrigens auch im Deutschen, aber die Aussage verkniff ich mir. Heutzutage ist es selbst bei den "Anständigen" nicht sicher ob sie bei einem bleiben. Oder ob man selbst bei ihnen bleiben möchte.
Wie meine Mutter so über ihre Jugend erzählte, schien sie jünger zu werden. Glückliche Menschen haben alle den selben Gesichtsausdruck, eine Art Seligkeit, die aus jeder Geste spricht. Meine Mutter fuhr fort, sprach von anderen Männern, die in ihrem Leben jemals an ihr interessiert waren: Damals in Vietnam im Heimatdorf, aber auch im Flüchtlingsheim in Deutschland, beim Einkaufen, selbst in der Kirche. Und sie merkte natürlich, wenn andere Frauen an meinem Vater interessiert waren. Sie zogen sich gegenseitig gerne damit auf.
Meine Eltern scheinen zu der Generation zu gehören, die wesentlich geschulter ist, soziale oder emotionale Signale zu empfangen. In einem Dorf guckt jede/r nach jedem/r, man pflegt wesentlich engere Kontakte und lernt, Menschen zu lesen. Menschen zu lesen wird umso einfacher, je häufiger man mit ihnen interagiert. Wer im selben Dorf aufwächst, kann Menschen in verschiedenen Altersstufen sehen, wie sie mit anderen umgehen - seien das Familie, Freunde, Bekannte, Fremde, Respektspersonen usw. Das vermittelt ein plastischeres Bild von einem Menschen und vermutlich birgt das seltener unangenehme Überraschungen als beim Datingspiel.
Was meine Mutter beschrieb, kannte ich von den Alt-68ern und den Damen aus meinem Kirchenchor. Die bemerkten verstohlene interessierte Blicke quer durch den Raum sofort, während ich oft genug absolut keine Ahnung hatte, was da vor sich ging. Selbst wenn es mich betraf. Und nein, soziale Medien helfen _nicht_ dabei, sozialer zu werden.
Möglicherweise hat mein Status als "Fremde" in dieser Gesellschaft etwas damit zu tun. Ich wuchs im Bewusstsein auf, Outsiderin zu sein, hielt den Kopf geduckt und versuchte, möglichst wenig Konflikt zu verursachen. Menschen sind wie Bücher: Wer keins von beidem genau studiert, versteht die Welt nicht. Bisweilen empfinde ich mich als soziale Analphabetin. Vielleicht ist das ein Generationending, vielleicht aber auch ein kulturelles Problem. Man muss nur mal S-Bahn fahren: Niemand sieht irgendjemanden an. Ich ließ letztens zum Versuch meinen Blick schweifen und beobachtete die Menschen im Abteil. Nie begegnete ich einem anderen Paar Augen. Alle schauten vorbei.
"Nehmen wir an, dass es in deinem Dorf noch andere Jungs gegeben hätte, die ähnlich anständig und höflich gewesen wären - hättest du sie in Erwägung gezogen?"
Meine Mutter blickte verlegen, ihre Augen schweiften in die Ferne. Kam jetzt die Weltformel langer, dauerhafter Beziehungen? Etwas, das ich selbst anwenden konnte?
"Nun ja - dein Vater sah in seiner Jugend sehr gut aus..."*
*Bilder von meinen Eltern in jung gibt es hier.
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