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Nicht ganz die richtigen Päckchen und Pakete. Aber nah dran. |
Eine der seltsameren Begebenheiten meiner Existenz fand in der Universitätsbibliothek in Erlangen statt. Der Lehrstuhl der Nordischen Philologie veranstaltete ein Symposium zum Thema Altisländische Literatur und Sprachwissenschaft mit anschließendem Festmahl, das von einigen skandinavischen Botschaften sowie verschiedenen Unternehmen großzügig gesponsert wurde. (Dank der zahlreichen skandinavischen Gäste war der gute Frankenwein (reichliche 35 Flaschen) nach etwa zwei Dritteln des Abends weggesoffen. Möglicherweise stimmte das, was man über die Nachfahren der alten Wikinger sagt. Möglicherweise wollten sich die nordischen Gäste einfach mal volllaufen lassen, ohne bankrott zu gehen wie daheim.)
Ich hatte mich freiwillig für den Bewirtungsdienst zwischen den Vorträgen gemeldet - Kaffee kochen, Kekse und Servietten verteilen und dabei ein bisschen Geld verdienen, zwischendrin Vorträge hören, etwa wie sich die Bedeutung des Wortes "braun/brúnn" im Laufe der Jahrhunderte im isländischen verändert hat. Am ersten Symposiumstag sollte ich ein Päckchen in Empfang nehmen - genau kann ich mich nicht mehr erinnern, vermutlich handelte es sich um Flyer oder Programmhefte, vielleicht auch die Kaffeemaschinen. Als Treffpunkt war der Paketraum der Bibliothek im Erdgeschoss vereinbart. Die Bibliothekarin aus dem ersten Stock sperrte ihn für mich auf: Der Raum war vollgestellt mit Kartons, die auf Regalen bis zur Decke
gestapelt waren, rechts befanden sich ein Tisch, der bessere Tage gesehen
hatte, sowie ein Stuhl aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Es war
dämmrig und staubig. Ich setzte mich auf den Stuhl und wartete. Das gedämpfte Licht und der Geruch von Kartons und altem Papier machte mich schläfrig - was samstags früh um neun als Studentin aber sicherlich nicht untypisch ist. Ich gähnte und war im Begriff, einzunicken, als die Tür aufflog.
Herein stürmte eine junge Frau, groß, lange dunkelbraune Haare, sichtlich in Eile, ganz vom Typ "es muss etwas geschehen - und das zackig". Während ich noch aus meinem Halbschlaf erwachte, blickte die Frau hektisch im Paketraum herum - sie schien etwas zu suchen. Das gab mir wertvolle Zehntelsekunden, sie zu mustern. Zumindest mein Gesichtsgedächtnis funktionierte auch im schlaftrunkenen Zustand einwandfrei: Sie war mit mir in einem Linguistik-Proseminar im Jahr zuvor gewesen, wir hatten damals sogar einige Worte gewechselt. Gerade wollte ich ihr ein freundschaftliches "Hallo" des Wiedererkennens entgegenrufen, doch dazu kam es nicht. Ich gelangte lediglich bis "Ha-", als sie mir sprichwörtlich das Wort abschnitt.
"Ich soll für Frau Professor XY ein Paket abholen, ist das schon gekommen?"
Deutsch kann manchmal richtig hässlich klingen. Nur ein paar Dezibel über Zimmerlautstärke und fünf Prozent über dem Durchschnittstempo und es klingt nach tausendjährigem Reich. Mein Gesichtsausdruck von damals lässt sich am besten mit "perplex" umschreiben. Womit hatte ich diesen harschen Ton verdient? Warum klopfte sie nicht an, wie es sich gehörte? Die Besucherin inspizierte die gestapelten Kartons und wandte sich mir zu.
"War der Paketdienst heute bereits da? Sie arbeiten doch hier."
Sie sprach nun überdeutlich, und zog jede Silbe in die Länge, als sei ich schwer von Begriff. Sie sah mir direkt ins Gesicht mit einem Ausdruck von Wichtigkeit und Geschäftigkeit. Langsam dämmerte es mir: Die Ex-Mitstudentin erinnerte sich nicht an mich. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wer ich war und nahm an, ich wäre beim universitären Paketverteilungsdienst tätig. Wohl auch wegen meinem schnell ersichtlichen Migrationshintergrund. Deshalb vielleicht dieser "Ich-rede-gerade-mit-DienstbotInnen"-Ton. Aber ich hatte keine Zeit, mich ob dieser krassen Ignoranz gekränkt zu fühlen. Ihre ungeduldige Art ließ keine Widerrede zu und da ich ohnehin nie eine der Schlagfertigen war, trat mein typischer Überlebensinstinkt ein: Ich passte mich einem Chamäleon gleich meiner Umgebung an und schauspielerte. Mein innerer Regisseur übernahm, nun ja, die Regie.
Hör zu, Naekubi, du bist hier jeden Tag. Dein Job ist langweilig, aber du kennst dich hier aus. Du bist die Paketverteilerin. An dir kommt kein Karton der Philosophischen Fakultät vorbei. Diese Kartons kennst du in- und auswendig. Gib dein Bestes!
"Nein, tut mir leid. Ich kann aber trotzdem mal nachsehen. Um welche Art von Paket handelt es sich?"
Nein, nein! Nicht so elaboriert! Nur weil du in der Uni arbeitest, bist du noch lange keine Intelligenzbestie! Mein innerer Regisseur griff sich in meiner Vorstellung verzweifelt an die Stirn.
Du weißt doch, wie Dienstleistung funktioniert!
Meine Ex-Mitstudentin blickte mich weiterhin ungeduldig an. Um genau zu sein, sah sie die gestapelten Kartons an, während sie von der Seite auf mich einredete. Zumindest sprach sie jetzt normal mit mir, nachdem ich mich als ausreichend kompetent in der deutschen Sprache erwiesen hatte.
"Büchersendung von Verlag A. Das ist an Professorin XY von der Germanistischen Linguistik adressiert."
Ich war immer noch beeindruckt von der gesamten Situation, im Nachhinein betrachtet war es eine außerkörperliche Erfahrung: Ich sah mich selbst von hinten, wie ich Dienstbotin spielte, während mich die Ex-Mitstudentin Downton-Abbey-mäßig von oben herab als inkompetente Minderleisterin behandelte. Ganz method-acting überkam mich ein Gefühl der Dankbarkeit, dass sie mich mit ihrem Besuch in diesem staubigen Kabuff beehrte.
Geschäftig durchsuchte ich einige der herumliegenden Listen, überprüfte mit gespieltem Kennerinnenblick die Eintragungen (trotz der Tatsache, dass ich von Logistik keinen blassen Schimmer habe), ging dann die einzelnen Kartons nah am Eingang durch, zog einige prüfend heraus, um dann mit halb resigniertem, halb entschuldigendem Blick den Kopf zu schütteln:
"Tut mir leid, das ist noch nicht da."
Die Ex-Mitstudentin verdrehte genervt die Augen und würdigte mich allenfalls eines Viertelblicks. Nicht ausreichend, um mich wiederzuerkennen. Wenn ich jemals daran gezweifelt hatte, dass Superman niemals als Clark Kent enttarnt wurde, nur weil er eine Brille trug, so bewies mir jene Situation, dass ein Aufenthalt im Paketraum als Tarnung völlig ausreichte. Zumal ich ohnehin immer Kontaktlinsen trug.
Ich konzentrierte mich noch einmal auf meine Rolle als universitäre Paketverteilerin, und schüttelte bedauernd den Kopf. Die junge Frau schnaubte ungeduldig, während ich weiter durch die Listen blätterte. Nachdem sie selbst erfolglos einige Karton inspiziert hatte, stürmte sie schließlich zur Tür. Beim Gehen wandte sie sich metaphorisch gesprochen an mich, ohne sich umzudrehen:
"Aber wenn die Päckchen heute noch kommen, geben Sie sofort im Büro von Frau Professorin XY Bescheid! Nummer haben Sie?"
Ich nicke dienstfertig, murmelte: "Natürlich." Dann rauschte sie davon. Mein innerer Regisseur war zufrieden.
Das war wunderbar, geradezu oscarverdächtig! Wir haben die Szene im Kasten!
Mit der Zeit ich wurde ich besser darin, mit zwischenmenschlichen
Herausforderungen umzugehen, mich nicht durch Vermeidung kleiner
Konflikte oder Missverständnisse in komödienhafte Situationen zu
bringen.
Die Ex-Mitstudentin sah ich später manchmal forsch und bestimmt durch das Institut eilen, sicherlich im Auftrag ihrer Professorin. Eigentlich ironisch, dass sie damals mindestens genauso Dienstbotin war wie ich. Ich fürchtete bisweilen, dass sie mich in einer Sprechstunde oder im Korridor wiedererkennen, sie mich nach dem Verbleib des Päckchens fragen und die Angelegenheit zeitlich verzögert peinlich werden könnte - das geschah aber nie.