Lesen im Bananenhain 1: Hiromi Kawakami - Am Meer ist es wärmer



Neuerdings kam es vor, dass ich meinen Mann vergaß. Früher hatte ich immer sehr intensiv an ihn gedacht, und sein plötzliches Verschwinden hatte diese Intensität sogar noch verstärkt.
Kei ist eine Frau Ende Dreißig. Sie lebt seit dem rätselhaften Verschwinden ihres Mannes Rei mit ihrer Mutter und ihrer Tochter Momo in Tokyo. Kei und Rei - vielleicht ist es kein Zufall, dass sich ihre Namen so ähnlich sind: Sie waren sich als Paar sehr nah, haben einander geliebt. Und doch ist Rei eines Tages spurlos verschwunden, ohne Abschied, ohne Erklärung. Erst nach Jahren findet sie in seinen Tagebuchnotizen einen Hinweis:

Die Eintragungen waren rein sachlich: ein Päckchen Rasierklingen. Abends Restaurant Torigen. Takamatsu. Kawahara. Einladung Abteilungsleiter. Spielzeugpferd für Momo. Solche Sachen eben, ganz nüchtern. Worte ohne Gefühlswert, dennoch versetzte es mir einen Stich, sooft ich sie las. (...) Zu meinem Erstaunen entdeckte ich unter dem mit dickem schwarzem Füller geschriebenen Eintrag "20 Briefmarken zu je 62 Yen. Saito-AG, erledigt" das Wort Manazuru. (...) Mein Mann hatte es etwa einen Monat vor seinem Verschwinden mit einem feinen Kugelschreiber geschrieben.
Manazuru ist ein kleines Fischerdorf am Meer, das Kei nicht kennt. Im Laufe des Romans fährt sie immer wieder dorthin, versucht, Antworten zu finden, warum Rei sie und ihre Tochter verlassen hat. Auf ihren Spaziergängen am Strand, den Klippen und im Fischerdorf begegnet ihr immer wieder eine Frau. Wir erfahren nicht, ob sie ein Geist, eine Vision oder ein Hirngespinst Keis ist. Hat sie am Ende etwas mit Reis Verschwinden zu tun? Manchmal gibt diese Frau Hinweise, führt sie an verschiedene Orte, doch eine Auflösung gibt es nicht. Wie Kei tappt der/die LeserIn im Dunkeln. In Rückblicken erhalten wir immer wieder Einblicke, welches Verhältnis Rei und Kei miteinander hatten. In nüchternen, fast zurückhaltenden Worten schildert Kei ihre große Liebe Rei, der ihr im Rückblick vielleicht doch immer fremd geblieben ist. Doch macht das einen Unterschied für die Gefühle?

Der Roman macht deutlich, wie man sich in Beziehungen nur bis zu einem gewissen Grad einem Menschen nähern kann. Vieles an einer Person bleibt uns trotz größter Bemühungen um Nähe immer verborgen. Was wir von Menschen erkennen können, ist immer nur eine Annäherung. Dennoch: Wir können Menschen lieben, die weit weg sind und uns fremd bleiben.

Japanisch lakonisch

"Am Meer ist es wärmer" ist für mich ein typischer japanischer Roman, wie er häufig im Westen veröffentlicht wird: Ein sparsamer, ja lakonischer Stil, eine tiefe, doch letztlich unverständliche Liebe und immer wieder geisterhafte Begegnungen. Haruki Murakami und Banana Yoshimoto sind dafür die prominentesten Beispiele.

Dabei gibt es in Japan natürlich auch andere Romane, die vielleicht expliziter, extravertierter oder kitschiger sind - sie werden nur nicht im Westen veröffentlicht. Ein Grund: Sie lassen sich schwer übersetzen. Das hat mit der japanischen Schriftsprache selbst: Ihre Schriftzeichen erlauben mehrere Lesarten. Ein Zeichen kann je nach Kontext auf die eine oder andere Weise gelesen werden. Somit entsteht eine Mehrdeutigkeit und Doppelbödigkeit, eine Art von piktographischen Wortspielen, die sich nicht elegant ins Deutsche übersetzen lässt. Vielleicht erfreuen sich deshalb die lakonischen AutorInnen im Westen besonderer Beliebtheit - und prägen so unseren Blick auf japanische Literatur auf ganz spezielle Art und Weise.



Interessant ist die Umschlaggestaltung: Die gebundene Hanser-Ausgabe ist neutral gehalten, das fast monochrome Bild spiegelt den lakonischen Stil des Buches wider. Die Figur auf dem Cover könnte man als japanische Frau lesen, muss man aber nicht.
Die dtv-Ausgabe hingegen geht volle Kanne auf Asia-Kitsch: Der bunte Papierschirm signalisiert dem/der LeserIn sogleich, was er/sie zu erwarten hat. Ich finde es irreführend: Der Roman spielt zwar in Asien, bedient keine exotischen Fantasien oder thematisiert Asien besonders.

Fazit: Wer Liebesgeschichten gerne liest, aber vor allzuviel Pathos zurückschreckt, dem sei dieses Werk ans Herz gelegt.

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