2013. Eine persönliche Inventur.

Mir kommt es wie gestern vor, dass das Jahr 2013 begann. Ich erinnere mich noch genau, mit wie viel Hoffnung und Vorfreude ich ins neue Jahr gegangen war. Ohne dass es einen richtigen Grund gab, fühlte ich mich wie ein Kind kurz vor der Bescherung an Heiligabend. Es fühlte sich an, als ob etwas Großes auf mich warten würde. Direkt um die Ecke.



Doch es kam lange Zeit - nichts. Ich ging arbeiten, ich traf mich gelegentlich mit FreundInnen, ich tweetete, ich bloggte, ich lackierte mir die Nägel. Der Winter war hart und lang. Der viele Schnee machte mir nichts aus, die Kälte war mir egal. Es war der wochenlang verhangene graue Himmel, der mir die Lebensfreude raubte. Aber da war noch mehr.



Im Frühjahr befiel mich ein unklares Gefühl von Unbehagen. Ich wusste nicht, woher es kam, eigentlich war alles normal. Ich war unzufrieden. Nichts Weltbewegendes, eigentlich. Viele Menschen sind unzufrieden, aber sie reißen sich zusammen. Mir fehlte etwas. Was war es - vielleicht etwas Aufregendes? Erlebnisse? Ich dachte, ein neues Blogprojekt zum Thema Reisen könnte helfen, mir den Alltag zu erhellen. Ich versuchte, viel zu unternehmen, dieses nagende Gefühl zu vergessen und in einem Meer von Umtriebigkeit, Konsum und Social Media zu versenken. Es half nicht wirklich.


Im Sommer hatte ich mit einer Pechsträhne zu kämpfen. Ich verlor permanent Dinge - sehr untypisch für mich, weil ich sehr gewissenhaft bin, wenn es um meine persönlichen Gegenstände geht. Eigentlich.
Ich zahlte unzählige Mahngebühren, weil ich vergaß, Bücher abzugeben, Kontodaten zu aktualisieren oder schlicht weil ich vergaß, meine Fahrkarte für die S-Bahn zu stempeln. Im Rückblick vermute ich, dass mir mein Kopf, meine Seele versuchte, mir etwas zu sagen. Schon da hätte ich innehalten müssen und einen prüfenden Blick auf meine Existenz werfen müssen. Ich tat es nicht.




Anfang August nahm mich mein Teamkollege beiseite. Wir hatten ein Gespräch. Über mich, die Arbeit, meine Entwicklung. Ihm war aufgefallen, dass ich nicht in bester Verfassung war, gerade was die Arbeit anbelangte, und fragte, was los sei. Mir fiel es schwer, das diffuse Unbehagen in Worte zu verpacken. Und er stellte die entscheidende Frage: Ist das denn, was du wirklich willst?
Das saß. Ich trug die Frage vernebelt in mir selbst, wagte aber nicht, sie mir zu stellen. Ich konnte keine Antwort geben, also vertagten wir das Ganze. Ein Wochenende nahm ich mir Zeit, darüber nachzudenken.



Ich blickte auf mein Leben zurück. Was ich bisher getan hatte, was ich noch tun wollte, warum ich manche Dinge tat und andere unterließ. Ich sah mir Konflikte in meinem Leben an. Ich stellte fest, dass ich vieles tat, weil sie vernünftig waren. Weil ich dachte, dass sie von mir verlangt wurden. Einen Großteil meines Lebens hatte ich damit verbracht, dazuzugehören, hineinzupassen. Ich war Einwandererkind, Ausländerin, ich sollte es in dieser Gesellschaft schaffen, das war mein Auftrag. Ich sollte ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden. Normal sein. Warum scheiterte ich daran, normal zu sein? Ein geregeltes Leben zu führen? Meine Mutter sagte mir immer: Alles, was andere schaffen, kannst du auch. Aber stimmte das? War ich nicht gerade dabei, in meiner Arbeit zu scheitern? War ich einfach nicht hart und unempfindlich genug, eine alltägliche Routine zu ertragen? Aber was war die Konsequenz? Was sollte ich tun?




Ich erinnerte mich an all das, was ich im Leben gerne tat, was aber in meinem Leben zu kurz kam: Schreiben, Musik machen, zeichnen, analysieren. Ich dachte daran, dass ich es eigentlich hasste, Anweisungen zu befolgen. In meinem Leben war ich viel zu viele Kompromisse eingegangen und hatte mich so sehr verbogen, dass ich nicht mehr ich selbst war. Alles um des lieben Friedens willen und um einer Idee von Normalität nachzuhängen, die nicht meine Idee vom Leben war.



Nach dem Wochenende fällte ich eine Entscheidung - und kündigte. Natürlich hatte ich Angst - wie sollte es weitergehen? Lebensverändernde Entscheidungen machen einfach Angst. Wir fühlen uns nicht fähig, Entscheidungen zu treffen, weil uns wichtige Informationen fehlen, anhand derer wir bestimmten könnten, ob das Ergebnis unserer Entscheidung wirklich besser sein wird als das, was wir schon haben. Ich kann nicht in die Zukunft blicken um zu sehen, was sie mir bringen wird. Ich betrachte das Ganze daher einfach mal als ein Experiment. Der Ausgang eines solchen ist immer offen und es nimmt mir den Druck, ein bestimmtes Ergebnis erreichen zu müssen.

2013 tat ich also etwas, was ganz und gar unvernünftig war, aber mir gut tat. Ich fühle mich - besser. Lebendiger. Glücklicher. Die besten Geschenke macht man sich immer noch selbst.

Ich bin gespannt, was 2014 bringen wird. Für mich, für euch, für uns. Auf jeden Fall wünsche ich euch allen einen guten Rutsch!

Lesen im Bananenhain 2: Kim Thúy - Der Klang der Fremde.


Viele Bücher, die ich lese, suche ich nach dem Cover aus. Es gibt im Englischen die Redewendung "Don't judge a book by its cover", doch die Optik ist ein integraler Bestandteil jeder Sache und kann einem etwas über den Inhalt verraten. Wieso sollte man diese Informationen ignorieren, nur weil sie offensichtlich sind? Ist das nicht absurd? Kim Thúys Der Klang der Fremde|Affiliate Link hat mich deshalb sofort angesprochen. Es gibt nicht gerade viele Bücher in Deutschland, die zum Thema Vietnam veröffentlicht werden. Insofern bin ich jedes Mal froh, wenn ich eins in die Finger bekomme. Titel und Cover passen gut zueinander und haben mich nicht irregeführt.
Meine Mutter zitierte oft ein Sprichwort, das in der achten Klasse ihrer Schule in Saigon an der Tafel stand: đời là chiến trận, nếu buồn là thua - "Das Leben ist ein Kampf, in dem Trauer zur Niederlage führt".
Nguyen An Tinh wächst in Saigon in einer unruhigen Zeit auf: Sie wird geboren, als der Vietnam-Krieg noch in vollem Gange ist, ein Sieg des kommunistischen Nordens über den kapitalistischen Süden zeichnet sich ab. Ihre Familie gehört zum vermögenden Großbürgertum, in dem es Bedienstete, Gala-Dinners und gute Bildung gibt. Mit der Wiedervereinigung Vietnams unter kommunistischen Vorzeichen 1975 verändert sich das drastisch: In der Familie werden nordvietnamesische InspekteurInnen einquartiert, die noch nie mit dem westlichen Lebensstil in Berührung kamen, weil sie im Dschungel in einfachsten Verhältnissen lebten. So stellen die Schubladen mit den Büstenhaltern ihrer Großmutter und ihrer sechs Töchter einen der Inspektoren vor ein Rätsel:
Ich hörte ihn in einer Ecke der Treppe mit anderen Inspekteuren sprechen. Er konnte nicht verstehen, warum meine Familie so viele Kaffeefilter besaß und diese sortiert in mit Seidenpapier ausgelegten Schubladen aufbewahrte. Und warum waren sie doppelt? Weil man Kaffee immer mit einem Freund trinken sollte? 
Fragmentarisch berichtet die Ich-Erzählerin von ihren Erfahrungen, von ihrem Leben als Tochter einer großbürgerlichen Familie, ihrer Flucht, der Zeit im Flüchtlingslager, der ersten verwirrenden Zeit in Kanada. Wie sie sich langsam zurecht findet. Wie ihre Mutter aufwuchs, die sich auf ein Leben als Society-Dame vorbereitet hat und stattdessen in Kanada putzen und Frühlingsrollen ausfahren muss. Die einzelnen Kapitel sind teilweise nur eine halbe Seite lang. Sie stehen wie Erinnerungsfetzen nebeneinander, zeigen Splitter einer Vergangenheit und einer Gegenwart. Chaotisch und ungeordnet wie eben unser Gedächtnis arbeitet. Die so erzeugten Kontraste machen dieses Büchlein so spannend.

Ich habe das Buch wirklich sehr gerne gelesen. Natürlich kenne ich zahlreiche Geschichten über Krieg, Flucht und dem neuen Leben im Westen von meiner eigenen Familie. Doch selten habe ich ein Buch in Händen gehabt, das mit einer solchen Leichtigkeit und feinem Humor diese Geschehnisse reflektiert. Die meisten Geschichten, die ich zum Vietnamkrieg und seinen Folgen gelesen habe, sind naturgemäß voller Trauer, Sehnsucht, Angst und Schrecken. Manchmal fiel es mir schwer, mich selbst von diesen fürchterlichen Dingen, die meiner Familie passiert sind, zu distanzieren. Kim Thúy schafft es hingegen, ihre Erfahrungen weder banal noch pathetisch oder übersentimental zu erzählen - für mich sehr wohltuend.

Dass der Roman überhaupt in Deutschland veröffentlicht wurde, ist wohl dem Verdienst des Münchner Kunstmann Verlags zu verdanken - nach dem Namen der Verlegerin Antja Kunstmann benannt, gehört er zu den kleineren unabhängigen Verlagshäusern. Er ist vor allem bekannt durch die Bücher von Axel Hacke. Auf seiner Webseite schreibt der Verlag, die dort verlegten Bücher zeichneten Witz, Ironie, der spielerische, souveräne Umgang mit Sprache und der kritische Blick auf die Zumutungen der Welt aus. Der Klang der Fremde passt damit sehr gut in das Verlagsprogramm.

Kim Thúy: Der Klang der Fremde|Affiliate Link

Naekubis Nails Edition 011 - Freundschaftsdienste in Rosa.

Ahoi miteinander. Bevor das Jahr ganz zu Ende geht, muss ich noch einige Bilder posten. Vor einer Weile war ich bei A., einer guten Freundin von mir. Wir machten einen Mädelsabend mit Nägel lackieren, fernsehen, amerikanische Klatschblätter durchblättern und Salt & Vinegar Chips essen (obligatorisch wenn man einen Abend mit jemandem verbringt, der den Großteil der Jugend in England verbracht hat).


Ich liebe Nägel lackieren. Nicht nur meine eigenen, sondern auch die von Freundinnen und Verwandten (Männer verirren sich selten unter meine Opfern Versuchskaninchen, aber es gab sie). Was ich dabei gelernt habe: Jede Hand und jeder Nagel ist anders. Von der Länge zur Stabilität über die Biegung - es gibt so viele Unterschiede.


Verschiedene Nägel reagieren verschieden auf Lack. Meine zum Beispiel sind recht stabil und halten Lack für bis zu zwei Wochen. A.s Nägel sind anders - sie scheinen etwas dünner und weicher zu sein, weshalb Lack nicht so gut haftet. Denn wenn ein Nagel sich unter Belastung stark verbiegt, platzt Lack natürlich leichter ab als wenn sich er eher steif und dick ist* wie bei mir oder meiner Schwester.


Wir werden weiterhin mit Lack experimentieren und sehen, ob wir die Tragedauer von zwei Tagen auf vier oder fünf verlängern können. Sie liebt feminines Design, weshalb ich hier "all out" ging.  Dazu habe ich extra rosa und violette Lacke mit und ohne Glitzer vorbeigebracht.


Leider waren die Lichtverhältnisse eher mäßig - wir haben versucht, aus der Tischlampe das beste herauszuholen. Vielleicht muss ich mir mal eine professionelle Lichtquelle besorgen. 

Danke fürs Vorbeischauen!


*that's what she said.

Despicable Me. Als junge Asiatin unterwegs mit einem älteren Mann.

Duisburg. Ich hatte meinen besten Freund seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen. Seit er aus einem winzigen Kaff zwischen Ober- und Niederbayern weggezogen war, um sein Glück in seiner eigentlichen Heimat, dem Ruhrpott zu versuchen, hatten wir uns nicht mehr getroffen. Das war nichts Neues, wir sehen uns nie häufiger als einmal im Jahr. Physische Nähe wird überbewertet. Das braucht es nicht, damit sich zwei Menschen austauschen können. Nur Breitbandinternet.


Es war immer egal, dass er dreißig Jahre älter ist als ich. Auch damals, als ich noch ein Teenager war. Ich war im Kopf zu alt, er im Kopf zu jung. Irgendwie passte es, trotz dem Altersunterschied. Wir sind beste Freunde.


Es war kalt und regnerisch, als wir unterwegs waren. Der Weihnachtsmarkt hatte schon geöffnet und wir streunten ein bisschen zwischen den Buden hindurch an der großen Einkaufsstraße entlang. Es waren schon recht viele Leute unterwegs, obwohl es ein Wochentag war. Wir gingen nebeneinander, redeten, sahen uns die Buden an. Wir schnupperten an Räucherkerzen und Parfümölen und er erzählte mir, wie das so war, in den Siebzigern, als die Mädchen nach Sandelholz und Patchouli dufteten.

Dobbelstein - empfehlenswert für Torten- und Pralinenfans

entschuldigt den Pic-Spam. moving on..

Oma-Café Dobbelstein: So altmodisch, dass es fast wieder hip ist.

Ich bemerkte sie. Die Blicke. Das Mitleidige, das Abschätzige, das völlig Perplexe: Ein junger Typ mit der Basecap starrte uns mit offenem Mund an. Nicht, dass mich die Blicke gekümmert hätten. In den Augen der Leute sah ich einen Film ablaufen: Ein älterer Mann in Südostasien auf einer grell beleuchteten Amüsiermeile, wie er eine junge Frau anspricht: "Bist du allein hier?" Sie dann mitnimmt, erst auf sein Zimmer, dann nach Deutschland. "Dort hast du es besser - ich bin reich." Weil sie ja keine Wahl hat, wenn sie ein einigermaßen okayes Leben führen möchte. Weil die Leute doch so arm sind, da drüben, in Thailand. Oder Kambodscha. Oder den Philippinen.


Einen Tag später machten wir einen Abstecher nach Venlo, einem niederländischen Ort direkt an der Grenze, der von Deutschen gerne zum Kaffee-Shoppen besucht wird. Wir sprachen viel, er machte seine manchmal unerträglich schlechten Witze, ich besuchte jede einzelne Drogerie auf der Jagd nach Nagellacken. Irgendwann waren wir hungrig und müde vom Herumlaufen. Wir gingen in eine der größeren Pommesbuden am Ort. Von außen sah sie aus wie eine der typischen Touristenfallen.

Nicht die Touristenfalle, sondern die kleine, aber feine Sankt-Martins-Kirche. Entschuldigt die Bildqualität.

Es gab innen einige Sitzplätze, die wir gerne in Anspruch nahmen. Wir setzten uns und sprachen nicht viel, zu sehr waren wir mit unseren Pommes beschäftigt. Sie waren tatsächlich sagenhaft gut. Selten verwende ich das Wort perfekt, doch diese Fritten verdienten dieses Prädikat. Im Augenwinkel sah ich ein mittelaltes Ehepaar in den Laden kommen. Ziemlich sicher Deutsche. Sie setzten sich an einen Tisch schräg rechts von uns. Mein bester Freund konnte sie nicht sehen, sie saßen in seinem Rücken.

Nie wieder andere Fritten.

Ich dagegen konnte der Frau direkt ins Gesicht blicken. Sie guckte immer wieder zu uns hinüber, wandte sich fast angewidert an ihren Mann, tuschelte mit ihm, schüttelte den Kopf. Sie verheimlichte ihre Abscheu nicht einmal. Ich hörte sie deutlich "Einfach unmöglich!" ausrufen, ehe sich ihre Mimik entspannte und sie sich einem anderen Gesprächsthema widmete.

Ich weiß es.

Ich weiß genau, worüber sie sich so entrüstet hat.

In ihren Augen bin ich ein kleines Opfer.

Eine arme Asiatin, die von diesem älteren Typen aus ihrer Heimat "verschleppt" wurde und ihm die Hausfrau und Geliebte spielen muss Die Arme. Einfach unmöglich, dass die sich für den quasi prostituieren muss. Ekelhaft, diese Typen, die sich eine exotische Frau aus dem Katalog bestellen.

Und wenn es so gewesen wäre, wenn ich eine Katalogfrau gewesen wäre: Na und? Nur weil ich eine junge Asiatin bin, heißt das doch nicht, dass ich eine zarte Lotusblüte ohne eigenen Willen bin und gerettet werden muss. Vielleicht nutze ich den Typen genauso aus - vielleicht spiele ich ihm große Gefühle vor, bis ich eine uneingeschränkte Aufenthaltserlaubnis habe und mich von ihm scheiden lassen kann. Vielleicht, vielleicht...

Lesen im Bananenhain 1: Hiromi Kawakami - Am Meer ist es wärmer



Neuerdings kam es vor, dass ich meinen Mann vergaß. Früher hatte ich immer sehr intensiv an ihn gedacht, und sein plötzliches Verschwinden hatte diese Intensität sogar noch verstärkt.
Kei ist eine Frau Ende Dreißig. Sie lebt seit dem rätselhaften Verschwinden ihres Mannes Rei mit ihrer Mutter und ihrer Tochter Momo in Tokyo. Kei und Rei - vielleicht ist es kein Zufall, dass sich ihre Namen so ähnlich sind: Sie waren sich als Paar sehr nah, haben einander geliebt. Und doch ist Rei eines Tages spurlos verschwunden, ohne Abschied, ohne Erklärung. Erst nach Jahren findet sie in seinen Tagebuchnotizen einen Hinweis:

Die Eintragungen waren rein sachlich: ein Päckchen Rasierklingen. Abends Restaurant Torigen. Takamatsu. Kawahara. Einladung Abteilungsleiter. Spielzeugpferd für Momo. Solche Sachen eben, ganz nüchtern. Worte ohne Gefühlswert, dennoch versetzte es mir einen Stich, sooft ich sie las. (...) Zu meinem Erstaunen entdeckte ich unter dem mit dickem schwarzem Füller geschriebenen Eintrag "20 Briefmarken zu je 62 Yen. Saito-AG, erledigt" das Wort Manazuru. (...) Mein Mann hatte es etwa einen Monat vor seinem Verschwinden mit einem feinen Kugelschreiber geschrieben.
Manazuru ist ein kleines Fischerdorf am Meer, das Kei nicht kennt. Im Laufe des Romans fährt sie immer wieder dorthin, versucht, Antworten zu finden, warum Rei sie und ihre Tochter verlassen hat. Auf ihren Spaziergängen am Strand, den Klippen und im Fischerdorf begegnet ihr immer wieder eine Frau. Wir erfahren nicht, ob sie ein Geist, eine Vision oder ein Hirngespinst Keis ist. Hat sie am Ende etwas mit Reis Verschwinden zu tun? Manchmal gibt diese Frau Hinweise, führt sie an verschiedene Orte, doch eine Auflösung gibt es nicht. Wie Kei tappt der/die LeserIn im Dunkeln. In Rückblicken erhalten wir immer wieder Einblicke, welches Verhältnis Rei und Kei miteinander hatten. In nüchternen, fast zurückhaltenden Worten schildert Kei ihre große Liebe Rei, der ihr im Rückblick vielleicht doch immer fremd geblieben ist. Doch macht das einen Unterschied für die Gefühle?

Der Roman macht deutlich, wie man sich in Beziehungen nur bis zu einem gewissen Grad einem Menschen nähern kann. Vieles an einer Person bleibt uns trotz größter Bemühungen um Nähe immer verborgen. Was wir von Menschen erkennen können, ist immer nur eine Annäherung. Dennoch: Wir können Menschen lieben, die weit weg sind und uns fremd bleiben.

Japanisch lakonisch

"Am Meer ist es wärmer" ist für mich ein typischer japanischer Roman, wie er häufig im Westen veröffentlicht wird: Ein sparsamer, ja lakonischer Stil, eine tiefe, doch letztlich unverständliche Liebe und immer wieder geisterhafte Begegnungen. Haruki Murakami und Banana Yoshimoto sind dafür die prominentesten Beispiele.

Dabei gibt es in Japan natürlich auch andere Romane, die vielleicht expliziter, extravertierter oder kitschiger sind - sie werden nur nicht im Westen veröffentlicht. Ein Grund: Sie lassen sich schwer übersetzen. Das hat mit der japanischen Schriftsprache selbst: Ihre Schriftzeichen erlauben mehrere Lesarten. Ein Zeichen kann je nach Kontext auf die eine oder andere Weise gelesen werden. Somit entsteht eine Mehrdeutigkeit und Doppelbödigkeit, eine Art von piktographischen Wortspielen, die sich nicht elegant ins Deutsche übersetzen lässt. Vielleicht erfreuen sich deshalb die lakonischen AutorInnen im Westen besonderer Beliebtheit - und prägen so unseren Blick auf japanische Literatur auf ganz spezielle Art und Weise.



Interessant ist die Umschlaggestaltung: Die gebundene Hanser-Ausgabe ist neutral gehalten, das fast monochrome Bild spiegelt den lakonischen Stil des Buches wider. Die Figur auf dem Cover könnte man als japanische Frau lesen, muss man aber nicht.
Die dtv-Ausgabe hingegen geht volle Kanne auf Asia-Kitsch: Der bunte Papierschirm signalisiert dem/der LeserIn sogleich, was er/sie zu erwarten hat. Ich finde es irreführend: Der Roman spielt zwar in Asien, bedient keine exotischen Fantasien oder thematisiert Asien besonders.

Fazit: Wer Liebesgeschichten gerne liest, aber vor allzuviel Pathos zurückschreckt, dem sei dieses Werk ans Herz gelegt.

Am Meer ist es wärmer: Eine Liebesgeschichte|Affiliate Link