"Die Stadtverwaltung hat uns angeschrieben. Ma und Pa müssen wieder was zahlen, um das Grab von Anh Hung zu verlängern."
Schwesterherz und ich skypeten wie so häufig an einem Freitagabend. Ich lackierte mir gerade die Fingernägel, konzentriert, um nichts zu verpatzen.
"Aha."
Anh Hung - großer Bruder Hung. Der Name klang immer noch vertraut. Eine Person, die ich nicht kannte, die jedoch wie Hintergrundgemurmel an einem geschäftigen Ort in meiner Familie immer eine Rolle spielte. Anh Hung gehört zu unserer Familie - irgendwie. Weil er zu meinen Eltern gehört, zu einem lange vergessenen Leben, das ich nicht kenne.
Schatten der Vergangenheit.
Es war Frühjahr 1979, als mein Großvater, der Vater meiner Mutter, seinen Plan umsetzte: Fliehen. Weg aus Vietnam. Die ganze Familie sollte raus, aus dem Kommunismus, der Überwachung, der Not. Wie Tausende andere - über das Meer. Wohin? Am besten Australien, USA oder Kanada. Auf jeden Fall weg.
Meine Mutter war damals knapp 18, frisch verheiratet mit meinem Vater und hochschwanger mit ihrem ersten Kind. Diese Aprilnacht war damals günstig, wenig Patrouille, klarer Himmel, ruhige See. Sie brachen auf, in einem kleinen Fischerboot: Meine Großeltern, meine Mutter, einige ihrer Geschwister, weitere Flüchtlinge.
In dieser dramatischen Situation ein Kind zu bekommen, dazu noch das allererste, ist ein Horror. Keine medizinische Hilfe, nur meine Großmutter als Unterstützung. Die Nabelschnur wurde mit einem abgekochten Taschenmesser durchtrennt und mit einen Stück Zwirn abgebunden. Meine Mutter erzählte mir irgendwann, dass die übrigen Flüchtlinge auf dem Boot abgemacht hatten, den Säugling über Bord zu werfen, falls er schreien sollte. Zu nah war noch die Küste und damit die Patrouillen.
Anh Hung schrie nicht. Das Boot fuhr weiter. Nach drei Wochen auf See erreichten sie mehr tot als lebendig Malaysia. Sie kamen schließlich in das Flüchtlingslager
Pulau Bidong, das später als "Hölleninsel" bekannt wurde - damals befanden sich dort 40.000 Menschen auf einer Fläche so groß wie ein Fußballfeld. Das Kind lernte dort laufen. Doch katastrophale hygienische Bedingungen bei medizinischen Untersuchungen und nicht ausreichende Medikamente führten schließlich dazu, dass Anh Hung schwere Infektionen bekam und sich seine Hirnhaut entzündete.
Es ist einem deutschen Arzt, der im Lager half, zu verdanken, dass meine Familie schließlich nach Deutschland kam: Aufgrund des kritischen Zustands von Anh Hung - er musste zu diesem Zeitpunkt bereits künstlich ernährt werden - wurden meine Mutter zusammen mit meinen Großeltern und ihren Geschwistern so schnell wie möglich nach Deutschland ausgeflogen.
Anh Hung wurde sofort behandelt, als meine Mutter in München landete, und ins Klinikum in Schwabing verlegt. Doch viel konnten sie nicht mehr tun, zu weit fortgeschritten war die Entzündung der Hirnhaut. Er litt an schrecklichen Anfällen und Krämpfen und konnte ohnehin nicht selbstständig essen. Seine letzten Monate verbrachte er in Neuendettelsau, näher an der neuen Heimat meiner Mutter. Er sollte sich nicht mehr erholen.
Am 20. November 1983 starb Anh Hung.
Die Gegenwart.
Ich starrte meine Nägel an. Das Ergebnis fand ich zufriedenstellend.
"Ich dachte, Ma und Pa hätten das Grab erst letztens verlängert?"
Schwesterherz auf der anderen Seite antwortete nur kurz:
"Das ist schon wieder fünf Jahre her - Das muss alle fünf Jahre neu beantragt werden."
Inzwischen sind also dreißig Jahre vergangen. Meine Eltern haben Anh Hung nie verheimlicht oder verschwiegen - seine Bilder stehen zu Hause auf den Regalen gleichberechtigt neben unseren. Nur hören seine Bilder im Alter von vier Jahren auf.
Als Kinder haben wir öfter eine Art Spiel gespielt - es hatte keinen Namen. Nennen wir es "Was wäre, wenn Anh Hung noch leben würde?" - "Wenn Anh Hung noch leben würde, wäre er soundso alt. Schon so alt! Boah, glaubst du, er wäre auch auf unser Gymnasium gegangen?" - "Was Anh Hung wohl studiert hätte?" - "Ich weiß nicht, vielleicht wäre er ja Arzt geworden." - "Dann wäre wenigstens eineR von uns MedizinerIn." - "Ja." - "Wenn Anh Hung noch leben würde, gäbe es Lillebror nicht - Mutter wollte immer nur genau vier Kinder." - "Das wäre sehr schade!"
Ich pinselte gerade Überlack auf, um meine Maniküre fertigzustellen.
"Unsere Eltern werden das Grab schon verlängern, oder?"
"Klar."
Mutter sagte einmal zu mir, dass ich große Ähnlichkeit mit Anh Hung hätte. Wahrscheinlich ist es nur ein Zufall, dass sein Todestag und mein Geburtstag so nah beieinander liegen. Und eigentlich glaube ich nicht an Wiedergeburt.