"Hallo zusammen, da ich mich nun endgültig damit abgefunden habe, kein
Gitarrenspieler zu werden, möchte ich mein gutes Stück wieder loswerden.
Ich biete hier also ein komplettes Einsteigerset. (...)
Die Gitarre wurde 1 sagenhaftes mal von mir probegespielt.
Das Set ist also absolut neuwertig. Da ich relativ
putzverliebt bin, sieht die Gitarre auch entsprechend Neu aus.
(...) Erfahrungsberichte könnte ihr euch ja
ergoogeln, ich kann damit leider nicht dienen, wie gesagt ich hab seit
Januar 1 mal gespielt und danach den Ansporn verloren - geht eben doch
nicht so leicht wie gedacht"
Vor einiger Zeit trat ich einer Facebook-Gruppe bei, wo Leute aus München und Umgebung Dinge, die sie nicht mehr benötigen, veräußern können. Die Annonce fiel mir sofort ins Auge - zwar besitze ich eine akustische Gitarre, doch ist sie nicht gerade komfortabel zu spielen: Zwischen Griffbrett und Stahlsaiten passt gefühlt ein kleiner Finger. Ich schrieb den Herrn an und machte spontan gleich einen Besichtigungstermin aus.
Doch plötzlich kam der alte Affe Angst. Da saß ich nun, junge Frau in den besten Jahren, und wollte allein abends hinaus nach Trudering fahren, um mir eine Gitarre anzusehen bei einem jungen Mann, den ich nur von einem unscharfen Profilbild auf Facebook kannte. Ich erinnerte mich unwillkürlich daran, wie mich meine Mutter vor derlei Situationen immer gewarnt hatte, wie schnell es passierte, dass man Opfer von Gewalt wurde. Gerade als Frau.
"So mir etwas zustößt: Rächet meinen Tod!"
Ich machte mir Gedanken. Sollte ich den Termin absagen wegen solcher Vorbehalte? Das empfand ich als übertrieben und absurd. Mit dieser Einstellung dürfte ich nicht einmal mehr das Haus verlassen. Sollte ich eine Freundin installieren, die mit mir den Termin wahrnimmt? Unpraktikabel, da alle Freundinnen im Moment verreist waren oder um diese Uhrzeit etwas anderes vorhatten. Ich entschied mich dafür, lediglich meinem älteren Bruder kurz Bescheid zu geben, wo ich abends sein würde, und ansonsten auf das Gute im Menschen zu vertrauen.
Außerdem, so dachte ich mir, wären aus meinem Facebook-Profil und den Daten meines Smartphones zweifelsfrei ersichtlich, wo ich mich zuletzt herumgetrieben und mit wem ich als letztes Kontakt hatte. Sollte mir also etwas zustoßen, wäre es zumindest relativ einfach gewesen,
meinen Tod zu rächen die Sachlage zu rekonstruieren.
Freitagabend fuhr ich also hinaus nach Trudering, eine Gitarrentasche und meine Sorgen ordentlich zusammengefaltet im Gepäck. Die Adresse war einfach zu finden, die Wohngegend war ruhig, fast zu ruhig.
Ich klingelte an der Haustür, die Tür wurde über die Türsprechanlage geöffnet. Ich stieg die Treppe hinauf, vielleicht eine Spur zu beschwingt - einem gekonnten Beobachter wäre meine Nervosität sofort ins Auge gefallen. Im zweiten Stock war links von der Treppe eine Wohnungstür geöffnet. Beherzt schritt ich hinein.
"Hallo, ich bin X. Super, dass das gleich geklappt hat! Du wolltest dir die Gitarre ansehen?"
"Ja, deshalb bin ich hier."
Wir gaben uns die Hand, ich schritt X. hinterher in den Wohnungsflur.
"Noch eine Sache..."
"Ja?"
"Kannst du bitte deine Schuhe ausziehen? Ich habe gerade sauber gemacht."
"... klar."
Was das soziale Protokoll verlangt
Die Monstrositäten in meinem Kopf sanken schneller in sich zusammen als meine Fahrradreifen nach einer Spritztour über die glasscherbenverseuchten Radwege Münchens. X. hatte also nicht übertrieben mit seiner "Putzverliebtheit" und schien auch sonst ein ganz anständiger Typ zu sein. Ich war beruhigt und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo die Gitarre stand - natürlich frisch geputzt.
Rückblickend auf die ganze Sache finde ich es traurig, dass ich mir überhaupt solche Sorgen gemacht habe. Aber vermutlich ist es das, was unter "Rape Culture" verstanden wird: Es ist nach wie vor gesellschaftlicher Konsens, dass Männer* sich anderer ermächtigen können und dass es die potenziell Schwächeren sind, die sich davor in Acht nehmen müssen. Auch wenn sexuelle Gewalt geächtet ist - schnell wird Opfern die Schuld gegeben, weil sie sich nicht an das soziale Protokoll gehalten haben: "Warum gehst du auch allein zu einem wildfremden Typen nach Hause? Das macht man doch nicht!" Die Gewalttätigkeit der Männer wird zur Norm erhoben, während die Opfer mit ihrem Verhalten angeblich gegen das Protokoll verstoßen, sich also diese Gewalt selbst zuzuschreiben hätten. Dass zuallererst diese Männer für ihr eigenes Verhalten verantwortlich sind scheint nur wenigen aufzufallen. Es ist entsetzlich, dass ich das überhaupt schreiben muss.
Epilog
Sicherlich will die werte LeserInnenschaft erfahren, ob ich die Gitarre nun gekauft habe oder nicht.
Deshalb:
Da ist das Ding!
Leider etwas unscharf aufgrund der bescheidenen Lichtverhältnisse in meiner Wohnung, aber doch erkennbar. Für ein Einsteigermodell spielt sie sich sehr schön, es ist eine wahre Freude.
*Machen wir uns nichts vor: Männer sind fast immer die Aggressoren,, wenn es um sexuelle Gewalt geht.
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