
Als meine Mutter wortwörtlich mit mir schwanger ging, ging es ihr ziemlich schlecht. Ich muss ein ziemlich harter Brocken gewesen sein, der ihr gute neun Monate lang einiges an Kummer bereitet haben muss. Auch die Geburt gestaltete sich als äußerst schwierig, so wurde mir gesagt.
Als ich dann endlich in den frühen Morgenstunden des 27. November 1985 das Licht der Welt erblickte, musste es meiner Mutter wie Schuppen von den Augen gefallen sein, wie mein Name lauten sollte.
Ruhe.
Die berühmte Faust auf dem mindestens ebenso berühmten Auge. Wer mich kennt, weiß
von meinem seelischen Eremitentum, das ich durchaus kultiviere.
Menschen, vor allem in Ansammlungen von mehr als vier, stressen mich sehr schnell. Aaah. Hilfe. Die peinliche Stille, eine nahe Verwandte der Ruhe, war zeit meines Lebens meine ständige Begleiterin, wobei es eher für meine Gesprächspartner peinlich war. Ich gehe in der Zeit der Stille mal kurz in meinem eigenen Gehirn verloren:
"Ok, die Frage hab ich beantwortet! Jetzt wartet sie auf etwas. Was soll ich denn sagen? Das Wetter? Schon wieder?! Zu belanglos. Vielleicht die Kinder? Interessieren mich null. Wie das Wochenende war? Hatten wir das nicht schon? Ist das nicht zu persönlich? Was, wenn sie darüber nicht reden will? Naekubi, lächeln nicht vergessen!"
Gerade am Telefon weiß ich manchmal schlichtweg nicht, was die Leute von mir erwarten. Dann sage ich eben nichts. Was auch wieder nicht richtig ist, wenn gerade mein Kunde einen Witz gemacht hat. Mist.
Eine meiner Professorinnen an der Uni hatte gemutmaßt, dass es irgendwie mit meiner Kultur zu tun haben könnte, dass ich seeehr zurückhaltend bin. Das glaube ich nicht: Vietnamesinnen habe ich gemeinhin häufig als äußerst lebhaft, ja nachgerade als laut und eher offen erlebt.
Vielleicht ist aber etwas Wahres dran, dass kollektivistisch geprägte Kulturen wie die in Asien ganz anders mit introvertierten Menschen umgehen. Introversion schien mir in Japan eher der Normalfall zu sein. Schwesterherz, meine Hausjapanologin, meinte dazu: "In Japan fallen die Extrovertierten so auf wie hier die Introvertierten."
Auch Norwegen erwies sich als Paradies für Introvertierte, was nicht nur an der Weite und Leere des Landes liegt. Man kann dort wunderbar schweigen - es war nie eine peinliche, eher eine angenehme Stille. Natürlich sind die Leute dort auch mal laut, aber persönliche Spleens werden da eher akzeptiert. In meinem letzten Norwegen-Urlaub kam ich bei einem guten Freund von mir unter. Er veranstaltete eine Hausparty, die auch recht lustig war. Aber irgendwann war ich müde und bin wortlos ins Bett gegangen - es war ein langer Tag. Am nächsten Morgen, am Frühstückstisch, entschuldigte ich mich für mein Verschwinden. Völlig unnötig: "Das ist doch ok. Ist ganz normal, dass man von der Party einfach verschwindet."
Meine Mutter erklärte mir irgendwann, dass sie mir mit diesem Namen, den ich trage, vor allem ein Leben in Ruhe wünschen wollte. Irgendwie befürchtete sie wohl, dass ich vielleicht rast- und ruhelos sein könnte. Ich habe allerdings den Verdacht, meine Mutter wollte mir damit signalisieren,
dass ich meinen Mitmenschen bitte weniger Kummer bereiten sollte als ihr
zu Beginn meines Lebens.
Ihr Wunsch hat sich erfüllt -
noch ein bisschen ruhiger und ich wäre scheintot.
Links zum Thema:
Artikel "Revenge of the Introvert" auf
Psychology Today
Artikel über persönliche Erfahrungen einer Introvertierten auf
Rookiemag