Nun haben es Kirchen und insbesondere auch Kirchenchöre an sich, heillos überaltert zu sein. Mein Kirchenchor ist da keine Ausnahme. Ich unterbiete den Altersdurchschnitt mühelos um 40 Jahre. Das älteste Mitglied, eine ganz reizende Dame namens Valerie, ist sogar 65 Jahre älter als ich, aber das nur so am Rande.
In meinem Alltag habe ich seltenst mit älteren Menschen zu tun - es gibt einfach keine Gelegenheit sich zu begegnen. Außer eben in besagtem Kirchenchor. Andere Menschen und andere Weltsichten erleben ist ohnehin spannend, und einmal mit einer anderen Generation zu tun zu haben, kann ganz neue (oder alte?) Welten eröffnen.
Altsein heute ist anscheinend anders als ich mir das klischeehaft vorstelle - Stichwort: 70 ist das neue 50. Fast alle Chormitglieder habe ich jünger geschätzt. In Stein meißeln würde ich es nicht, doch habe ich den Eindruck, dass das Großstadtleben die geistige Flexibilität und den geistigen Horizont immens erweitern kann. Da SeniorInnen gemeinhin als der konservativere Teil der Bevölkerung angesehen werden, kann man dem gesellschaftlichen Fortschritt einen Realitätscheck verpassen. Wie weit sind wir als Gesellschaft?
Ein paar Beispiele:
- Bei meinem ersten Mal in der Chorprobe kam (natürlich!) die Frage, woher ich komme. Eine Sängerin lobte sogar mein gutes Deutsch *seufz*. Ich bedankte mich etwas konsterniert. Als sie später im Gespräch erfuhr, dass ich hier geboren wurde, entschuldigte sie sich für ihre unsensible Frage vorher.
- Folgendes Gespräch zwischen zwei Mezzosopranistin habe ich mitgehört: "Ich werde jetzt endlich Oma!" - "Wie alt ist denn deine Tochter?" - "Sie ist jetzt 45." - "Ach, das ist ja heute ganz normal." In meiner Heimatstadt würde man sich wahrscheinlich das Maul darüber zerreißen.
- Besagte Valerie konnte an Weihnachten nicht in der Messe mitsingen, weil sie über die Feiertage nach England zu ihrer Tochter flog. Mit 92. *auchkönnenwillwennichsoaltwerde*
Was eine sehr homogene Lebenswelt anrichten kann, illustriert folgendes Beispiel:
Die Pfarrerin im nächsten Dorf neben meiner Herkunftsstadt war ungeheuer beliebt und kompetent. Auch ihre Predigten wurden gerne gehört, bis, ja, bis sie sich vor ihrer Gemeinde als lesbisch bekannte und begann, offen mit ihrer Lebensgefährtin zusammenzuleben. Nun boykottieren viele der Gemeindemitglieder die Gottesdienste dieser Pfarrerin. Dass sie eine hervorragende Seelsorgerin ist? Vergessen. Schließlich ist sie - "so".
Natürlich weiß ich nicht, was die Damen und Herren im Chor sagen würden, wenn sich der örtliche Pfarrer outen würde und mit seinem Partner zusammenleben wollte. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass es hier in München bei einer lesbischen Pfarrerin ähnlich viel Aufruhr gäbe wie dort. Weder bei jüngeren noch bei älteren Leuten. Und selbst wenn es Vorbehalte gäbe: Man würde es sich zweimal überlegen, diese laut herauszuposaunen.
Münchner SeniorInnen sind also super - flexibel, fortschrittlich und überraschend wenig grantig. Nur in einem Bereich hat mein Chor etwas Nachholbedarf: Moderne Kommunikationsmittel.
Weil mich eine Sängerin auf dem Handy nicht erreichte, verfasste sie einen handschriftlichen Brief und ließ ihn mir auf dem Postweg zukommen - sie wollte mir schnell Bescheid geben, dass die nächste Chorprobe ausfällt und der Chor stattdessen essen geht.
Eine Benachrichtigung per Brief?!
AntwortenLöschenDas ist ja dermaßen charmant. :3
Darf man fragen wie es dazu gekommen ist, dass du ausgerechnet den Kirchenchor gewählt hast bzw. hast du auch zwischen anderen Choren geschwankt?
Sagen wir so: Ich bin den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Von meiner Wohnung brauche ich keine zehn Minuten zu Fuß zur Chorprobe. Das macht es leichter, sich nach einem langen Arbeitstag zu motivieren hinzugehen :)
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