Kindertage, Bücher und Deutschsein

Früher, als es noch feste Termine in der Stadt gab, wo der Sperrmüll zur Abholung vor die Tür gestellt wurde, gingen meine Eltern öfter auf Schatzsuche. Was heute irgendwie hipster-mäßig daherkommt, war damals Notwendigkeit - mit vier Kindern und nur einem Vollzeit arbeitenden Erwachsenen kein Wunder.
Aus dem Sperrmüll brachten meine Eltern neben Schränken, seltsamen Deko-Objekten und Lampen auch Bücher mit. Bildung ist schließlich immer gut. Manche Bücher waren unglaublich alt, völlig vergilbt und verstaubt, vermutlich waren sie durch Generationen von Leserhänden gewandert und dann irgendwann auf einem Dachboden liegengeblieben.
Vor allem in den Kinderbüchern wimmelte es nur so von Jungen und Mädchen, die im  Nachkriegsdeutschland allein mit ihren Müttern lebten, Kohlen aus dem Keller holen mussten oder nachmittags auf der Straße Ball spielten (in München!).
Zu meinen Lieblingsbüchern gehörten neben einem Lesebuch namens "Mein Vater kann hexen" der Jugendroman "Tapfere kleine Inge". Inge ist ein etwas rundes lustiges Mittelschicht-Mädchen, das zusammen mit seinen Eltern und der älteren Schwester im New York der Fünfziger lebt (der Name wurde eingedeutscht, im Original heisst sie Jane).
Eines Tages ziehen neue Nachbarn in ihre Gegend und sie haben nicht nur eine Tochter in Inges Alter, sondern auch ein Klavier, was sofort Inges Interesse weckt, denn sie würde gerne Klavier spielen können.
"Doch das war nicht alles. Das Nachbarsmädchen hatte glattes schwarzes Haar und ihre Augen liefen mandelförmig ein wenig schräg nach oben."*
Die beiden freunden sich an und das asiatische Nachbarsmädchen (dessen Namen mir leider entfallen ist) nimmt Inge quasi als erste Klavierschülerin an. Inge freut sich sehr über die neue Bekanntschaft und erzählt begeistert ihrer Mutter von den Nachbarn:
"Stell dir vor, sie sprechen Englisch wie richtige Amerikaner!"
Bei diesen Worten werden die Augen ihrer Mutter eng und ihre Lippen ganz schmal - sie erklärt Inge darauf:
"Die Nachbarn sehen vielleicht anders aus, sind aber genauso Amerikaner wie wir. Sag so etwas nicht wieder!"
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Als Kind verstand ich diese Stelle nicht. Damals, mit acht Jahren, leuchtete es mir schlicht nicht ein. In meiner Welt war klar: Ich bin Ausländerin, was ja auch meine Mutter sagte, und die anderen, das sind die Deutschen. Die sahen ja auch anders aus und sie mochten manchmal uns Ausländer nicht. Mehr dachte ich auch nicht darüber nach. Wozu auch? Ich war keine Deutsche, Punkt.
Jetzt, fast 20 Jahre später, bin ich schlauer - und mehr als erstaunt über das Buch. Man kann ja viel über die USA schimpfen und den Kopf schütteln, aber immerhin: Schon in den Fünfzigern galt es, andere Ethnien einzuschliessen - auch in Kinderbüchern. Hier, im Deutschland des 21. Jahrhunderts, gilt oft genug noch das Blutrecht - entweder hast du deutsches Blut (oder siehst deutsch aus) oder du gehörst nicht zum Club.
Das Deutschsein am morgigen Nationalfeiertag zu zelebrieren fällt mir deshalb schwer. Andererseits heisst er "Tag der deutschen Einheit". Ob wir eines Tages wirklich eine Einheit sein werden? Und ich ein Teil einer bunten Einheit von Deutschen?
In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern einen schönen Tag der deutschen Einheit. :)
*Alle Zitate sind sinngemäss aus dem Gedächtnis zitiert.

CONVERSATION

2 Kommentar/e:

  1. Da hast du aber einen Glücksgriff gemacht. Ich habe auch "Asian-American" Freunde und die werden oft mal gefragt, "no, where are you REALLY from?" Ich denke, viele weiße Amerikaner vergessen, dass sie auch nicht die Ureinwohner des Kontinents sind...

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    1. Ja, so ist das eben, wenn man zur Mehrheit gehört - man macht sich keine Gedanken darüber. Und dass Asian-Americans gefragt werden: Wir leben nun einmal nicht in einer perfekten Welt...

      Ich finde es umso bemerkenswerter, dass in einem Jugendbuch auf die Problematik hingewiesen wird - in den 1950ern o_O

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